Cancel Island
[24.12.2022]
Heute mache ich es ganz schlicht und wünsche wundervolle Weihnachten.
Eine stattliche Zahl von Verbannten hatte sich auf der Hafenmole von „Cancel Island“ versammelt und schaute erwartungsvoll in die nasskalte Ferne. Eine für den heutigen Weihnachtsabend erwartete Rudergaleere löste sich nur mühsam vom unscharfen Horizont, denn die untrainierten Ruderer waren erschöpft und eigentlich zog sie gar nichts an diesen fremden Ort. Umso wichtiger war es den Inselbewohnern, die Neuankömmlinge warmherzig und in großer Zahl zu empfangen. Und neugierig waren sie auch.
Innenministerium und Medien hatten irgendwann erkannt, dass die vielen weg gecancelten Kritiker die Ellbogenfreiheit bei der Gesinnungsausübung unerträglich einschränkten. Ein Blick in die Geschichte, den man sonst lieber vermied, zeigte die perfekte Lösung: Eine Strafkolonie am anderen Ende der Welt mit einer zermürbenden Überfahrt, das hatte ja schon bei der Besiedlung Australiens perfekt funktioniert. Wegen der überwiegend rechtsextremen Gesinnung der Ruderer hatte man insgeheim gehofft, die Galeeren würden schon vor der heimischen Küste über Steuerbord kentern, auf offener See immer links herum im Kreis fahren oder die zahlreichen Querdenker würden auch quer rudern, aber auch dieses Schiff erreichte nach langer Fahrt sein abgelegenes Ziel.
Da standen sie nun, die selbstkritischen Wissenschaftler, die mutigen Journalisten und leidenschaftlichen Aufklärer – zwischen Querdenkern, Basisten, ausdauernden Demogängern, renitenten Impfverweigerern, Putinverstehern, Datenanalysten und mutigen Richtern – und freuten sich auf die Neuankömmlinge. Erfahrungsgemäß dauerte es einige Zeit, bis diese erkannten, dass sich ihre Situation nicht so grundlegend verschlechtern sollte, wie sie zu Reiseantritt vermutet hatten.
Lange hatte man sich auf der kargen Insel gefragt, wo sie alle gemeinsam Weihnachten feiern sollten, als unvermittelt eines Morgens der Kölner Dom neben der Siedlung stand. Die Oberen der Domstadt hatten ihn aus der Silhouette verbannt, um sich weltoffener zu präsentieren. Auf der notdürftig besiedelten Insel wirkte der Bau vielleicht etwas massig und sehr katholisch, wurde aber dennoch als Baukunst und Kulturschatz von Menschen aller Glaubensrichtungen wertgeschätzt, und praktisch war er auch, außer, dass es zunächst nicht genug Tische gab für die gemeinsame Weihnachtsfeier aller Glaubensformen.
Am Kindertisch schleckten die kleine Hexe, der junge Winnetou und Jim Knopf eine Portion Mohrenkuller und erzählten sich wehmütig die Abenteuer aus ihren früheren Leben als Jugendbuchhelden. Andererseits waren die starken Kinder, wie auch viele Erwachsene auf Cancel Island, sehr dankbar, sich an diesem Ort direkt begegnen zu dürfen.
Eine Reggae Band lieferte etwas überraschende Musik, aber sie war einfach unglaublich stark besetzt. Die ersten Musiker waren nur wegen ihrer falschen Haarfarbe hier angekommen, dann kamen welche mit zu rebellischen Texten und am Ende Bob Marley selbst wegen der Textzeile „Iron Lion Zion“.
Vom sonst vertrauten Ensemble des Krippenspiels hatten historisch nur zwei ausreichend angeeckt, um ein Ticket nach Cancel Island zu bekommen: Jesus und der Esel. Jesus war im Gegensatz zu traditionellen Kirchendarstellungen hier weder neu geboren noch kurz vor dem Ableben, sondern ein erwachsener Mann in der ganzen Kraft seines Wortes, was ihm eine Dauerkarte unter den Verbannten eingebracht hatte. Der Esel hatte nach Jahrhunderten keine Lust mehr auf Krippenspiel und stand störrisch draußen im Wind. Dennoch bekam er von den Besuchern immer wieder eine Möhre oder etwas Streicheleinheiten, denn es war ja Weihnachten.
Jesus kurze Ansprache schenkte einigen Gästen Klarheit zu ihrer Bestimmung oder einen kritischen Blick auf ihre eigene Position, anderen, die ihre Liebsten in der Alten Welt zurücklassen mussten, Trost, und allen ganz einfach Kraft für diesen und jeden neuen Tag. Vielen wurde klar, dass eines fernen Tages die Galeeren unbesetzt anlanden würden, um die meisten von ihnen zurückzubringen in die Alte Welt, damit sie dort zuhören und sich erklären sollten, um sich zu versöhnen und den Menschen, egal was passiert war, in Nächstenliebe zu begegnen.